Der Drache des Schrecken

aus: "Die Mondsteinmärchen" von Roland Kübler
ISBN: 3-926789-02-6

Das Land war grau geworden. Düster und schwer drückten die Wolken auf die einst fruchtbare Erde. Die Menschen huschten, in Trauerkleider gehüllt, wie gesichtslose Schatten durch die meist ausgestorbenen Strassen. Fest verschlossen waren die Stadttore. Fremde, die um Einlass und Quartier baten, erhielten keine Antwort.
Das war nicht immer so gewesen. Einst blühten in dieser Stadt Handel und Kunst. Die Menschen hatten glücklich gelacht und sich auf jeden neuen Morgen gefreut. Die Stadttore waren auch nachts weit geöffnet gewesen, und der Schlüssel der Stadt hatte seinen Platz an einem großen Stein mitten auf dem Marktplatz gehabt. Jeder hätte ihn sich nehmen können. So war es auch in allen anderen Städten des Landes gewesen. Bis zu jenem unglückseligen Tag, an dem die Ritter der Angst in das Land eingefallen waren.
Heute weiß niemand mehr, wie sie ihren Weg in dieses glückliche Land gefunden haben. Eines Nachts waren sie plötzlich da.
Sengend und plündernd zogen sie durch die Stadt. Auf dem Marktplatz entzündeten sie ein großes Feuer, und alle Menschen der Stadt wurden auf den Platz getrieben. Die Ritter raubten den alten Stadtschlüssel und verkündeten: "Jedes Jahr werden wir wieder in diese Stadt kommen. Ihr werdet uns gebührend empfangen und mit allem versorgen, was wir benötigen. Vor allem aber habt ihr zehn junge, kräftige Männer mit Waffen, Rüstungen und Pferden bereitzustellen. Sie werden mit uns kommen. Falls ihr diese Forderungen nicht erfüllt, ketten wir den Drachen des Schreckens los und hetzen ihn auf eure Stadt. Sein giftiger Atem und sein Feuer würden die Stadt zerstören!"
Daraufhin verschlossen die Ritter der Angst die Stadttore und zogen weiter. Die Menschen flüchteten in ihre Häuser und hofften, dies alles möge nur eine böser Alptraum sein. Das Leben auf den Strassen und Plätzen erstarb, und nur noch in der Dämmerung schlichen einige graue Gestalten blicklos durch die Strassen. Die Ritter der Angst hatten wirklich ganze Arbeit geleistet: Die Menschen waren ohne Hoffnung und mit der Hoffnung stirbt auch die Liebe und das Vertrauen in sich selbst und andere.
Jedes Jahr kamen die Ritter der Angst wieder in die Stadt und nahmen zehn bewaffnete Männer mit sich. Niemand wusste, wohin diese gebracht wurden. Kein Mensch wagte darüber zu reden.
Eines Jahres trafen sich in einem versteckten Winkel bei der Stadtmauer drei junge Männer.
"Wir werden als Nächste dran sein" flüsterten sie einander zu. "Die Ritter der Angst sind auf dem Weg hierher. Immer mehr Dörfer und Städte belegen sie mit ihrem Fluch. Unsere Väter lassen schon Rüstungen anfertigen und nachts weinen sich unsere Mütter die Augen aus. Am Tag bevor die Ritter der Angst in die Stadt kommen, wollen wir Rüstungen, Waffen und Pferde nehmen und aus der Stadt fliehen."
So wie sie es geplant hatten, geschah es. am Abend, das Heer der Ritter der Angst ließ schon die Erde zittern, der Staub der vielen Pferde verdunkelte den Horizont, stahlen sich die drei Männer aus ihren Elternhäusern. Bei der Stadtmauer trafen sie sich. Durch einen von Büschen und Efeu überwucherten Mauerspalt im hintersten Winkel der Stadt gelangten sie nach draußen. Sie konnten sehen, wie die Ritter der Angst in die Stadt einzogen und hören, wie sie tobend durch die Strassen preschten. Am nächsten Morgen verließen die Ritter die Stadt. Zehn junge Männer ritten mit hängenden Köpfen hinter ihnen her.
"Wir wollen ihnen heimlich folgen", beschlossen die drei Männer in ihrem Versteck, "vielleicht gehen sie zum Drachen des Schreckens. Wenn wir ihn töten, ist das Land wieder frei."
Vorsichtig und mit großen Abstand ritten sie hinter dem Heer durch das Land. Immer wieder mussten sie mit ansehen, wie die Ritter der Angst nachts in eine Stadt eindrangen und mit weiteren gerüsteten Männern am nächsten Tag davonzogen.
Schließlich führte Sie ihr Weg auf einen gewaltigen Berg zu, der den diesigen Horizont beherrschte. Tagelang änderte sich die Richtung des Heeres um keinen Zoll. Doch eines Abends stellten die Verfolger fest, dass die Ritter der Angst um ein kleines Waldstück offenbar einen großen Bogen geschlagen hatten. Da die Sonne bereits untergegangen war, beschlossen die drei Männer, im Schutze dieses Wäldchens zu übernachten. Als die Nacht das Land und den Himmel in ihre dunkle Hand genommen hatte, sahen sie ganz in ihrer Nähe ein kleines Licht durch die Bäume schimmern. Vorsichtig und leise gingen die drei Männer darauf zu. Verborgen unter dem dichten Dach einiger Erlen, kamen sie zu einer kleinen Hütte, deren Fenster ein wärmendes Licht zeigten. Neugierig gingen sie näher, nicht ohne die Lanzen fest in den Fäusten zu halten. Als sie durch eines der Fenster schauten, sahen sie eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, lesend an einem Tisch sitzen. Die Angst der drei Männer verflog. Sie klopften und das Mädchen empfing sie freundlich. Als sie jedoch mit ihren Rüstungen, den Schwertern, Lanzen und Schilden in das Haus gehen wollten, versperrte sie ihnen den Weg.
"Niemals sah ich in meinem Haus eine Waffe", sprach sie, "und so soll es auch bleiben."
Nach kurzem Zögern legten die drei Männer ihre Rüstungen und Waffen vor dem Haus ab und traten dann ein. Das Mädchen bat sie an den Tisch, reichte ihnen kühles Wasser, salziges Brot und eine heiße Suppe. "Ihr seht traurig und niedergeschlagen aus", sagt sie dann. "Welche Last drückt auf eure Schultern, wer hat euch das Lachen genommen?"
Die Männer erzählten dem Mädchen von ihrer Stadt, den Rittern der Angst und ihrem Vorhaben, den Drachen des Schreckens zu suchen, um ihn zu besiegen. "Vielleicht kann ich euch helfen", erwiderte das Mädchen und musterte die drei Männer aufmerksam. "Aber dazu brauche ich ein wenig Zeit. Morgen früh werden wir weitersehen."
Die drei Männer schliefen in einer kleinen Kammer tief und traumlos. Gestärkt und voller Mut erwachten sie und bestürmten das Mädchen, zu sagen, wie es ihnen helfen wolle.
"Ich will euch einen Tausch vorschlagen", erwiderte sie lächelnd, "den Drachen des Schreckens kenne ich gut. Ich weiß, wie ihr ihn überwinden könnt." aufgeregt waren die drei Männer aufgesprungen: "gutes Mädchen, schnell, sagt uns, wie wir das anstellen können!"
"Es sind zwei Dinge, die ihr erfüllen müsst", bekamen sie Auskunft. "Ich werde euch dieses Kästchen mitgeben. Wenn ihr mutlos und ohne Hoffnug seid, dann öffnet es. Vorher nicht. Ich kann euch dieses Kästchen jedoch nur geben, wenn ich mir dafür eure Lanzen hier laßt. Die zweite Bedingung ist: ihr müsst zu meiner älteren Schwester reiten, die drei Tagesritte von hier am See der warmen Quellen wohnt."
Die drei Männer waren nicht sehr begeistert. Wie sollten sie ohne ihre langen Lanzen den Drachen des Schreckens besiegen können, und wie sollten sie ihn finden, wenn sie der spur des Heeres nicht weiter folgten? Unentschlossen sahen sie sich an. Schließlich sagte das Mädchen: "Meine Schwester kennt den Drachen des Schreckens auch. Ihr werdet dort wertvolle Hilfe erhalten." Als die Männer das hörten, beschlossen sie, den Worten zu vertrauen und gaben ihre Lanzen her. Kaum berührte sie das Mädchen, schmolzen die scharfen Spitzen und tropften auf die Erde. Die Schäfte zersplitterten und brachen. Verwundert schauten die Männer zu. Sie wagten jedoch nicht, irgendwelche Fragen zu stellen. Das Mädchen gab den Männern ein kunstvoll verziertes Kästchen, beschrieb ihnen nochmals den Weg, umarmte jeden von ihnen und winkte ihnen lange nach.
Drei Tage ritten die Männer und entfernten sich dabei mehr und mehr vom Heer der Ritter der Angst. am Abend des dritten Tages erreichten sie endlich, müde und erschöpft einen See, dessen Wasser wunderbar warm war. Ohne Schwierigkeiten fanden sie das Haus, welches ihnen beschrieben worden war. Auf einer Bank davor sahen sie eine junge Frau sitzen, die ein Lied summte und sich die Haare bürstete. Als sie die Männer sah, erhob sie sich und ging ihnen entgegen.
"Willkommen Fremde!" rief sie ihnen zu. "Nehmt den Pferden die Decken ab und lasst sie trinken. Und ihr selbst erfrischt euch im See."
Nur zu gerne gehorchten die Männer der jungen Frau. Nach dem Bad fühlten sie sich so kräftig wie noch niemals zuvor in ihrem Leben. Voller Tatendrang wollten sie ihre Rüstungen wieder anlegen. Die junge Frau jedoch kam lachend aus dem Haus. "Wenn ihr etwas zu essen haben wollt, müsst ihr eure Rüstungen schon hier liegen lassen und auch die Waffen lasst bitte vor der Tür. Solange ich hier wohne, soll kein Kriegswerkzeug in den Räumen lärmen."
Die drei Männer waren zwar ein wenig missmutig, aber sie hatten auch Hunger. Ohne Rüstungen und Waffen traten Sie in das Haus und setzten sich an den Tisch.
"Ihr wurdet von meiner Schwester geschickt, nicht wahr?"
"Woher weißt du das?" die drei waren erstaunt, denn sie hatten noch nicht gesagt, woher sie kamen.
"Ich habe ihr Kästchen am Sattel eines eurer Pferde gesehen", erwiderte die Frau. "Was wollt ihr von mir?" Die Männer berichteten wieder von ihrer Stadt, den Rittern der angst und ihrem Plan, den Drachen des Schreckens zu töten. Die junge Frau hörte aufmerksam zu. Schließlich meinte sie: "Ich kenne den Drachen gut. Früher habe ich mit ihm gespielt und wir waren gute Freunde. Aber seit er von den Rittern der Angst gefangen worden ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen."
Die drei Männer zuckten zusammen. Diese Frau wollte mit dem Drachen des Schreckens gespielt haben? Sie sehnten sich nach ihren Schwertern. Die Nähe des geschmiedeten Eisens, die kühle Härte des Schwertgriffs wäre eine Beruhigung gewesen. Aber die Frau lachte sie an und damit alle ihre Ängste weg. "Ich werde euch helfen. Doch ich brauche Zeit, um meine Vorbereitungen zu treffen. Legt euch hin, ruht euch aus bis morgen früh. Dann werden wir weitersehen."
Daraufhin verließ sie das Haus und ging am Ufer des Sees entlang. Die drei Männer schliefen bis in den frühen Mittag. Als sie erwachten, wurden sie von der Frau wieder in den See geschickt, und wie am vergangenen Abend fühlten sie die erfrischende Kraft des warmem Wassers. Als sie zum Haus zurückkamen, sagte die junge Frau: "Ich kann euch weiterhelfen, aber es gibt zwei Dinge, die ihr erfüllen müsst. Meine Schwester wohnt drei Tagesritte von hier am Rande einer großen Schlucht. Ihr müsst sie besuchen, denn dort werdet ihr wichtige Ratschläge bekommen. Als zweites müsst ihr eure Rüstungen hier lassen. Dafür gebe ich euch ein Kästchen mit. Wenn ihr nicht mehr ein noch aus wisst und sich eure Gedanken vor Angst überschlagen, dann öffnet es. Esst von den Blättern, die darin liegen und ihr werdet hören, wie euer Herz zu euch spricht."
Wieder zögerten die Männer lange und besprachen sich ausführlich. Schließlich meinte einer von ihnen: "Vielleicht sind unsere Rüstungen beim Kampf gegen den Drachen nur hinderlich. Ohne sie sind wir viel schneller und wendiger. Ich glaube, die Frau weiß schon, was sie uns rät. Schließlich kennt sie den Drachen recht gut."
die Männer gaben der jungen Frau die Rüstungen und diese warf sie in den See. Danach reichte sie ihnen das kleine Kästchen, beschrieb ihnen nochmals den Weg und die drei Männer ritten los. Ohne das gewicht ihrer schweren Rüstungen kamen sie schnell voran. Trotzdem brauchten sie drei Tage, bis sie an den Rand der gewaltigen Schlucht kamen, wo das Haus der ältesten Schwester stehen sollte. Der Weg wurde immer enger und gefährlicher. Wie ein dünner Spinnfaden wand er sich am Rand der Schlucht entlang. Die Männer mussten von ihren Pferden absteigen und sie vorsichtig hinter sich am Halfter führen. Steil stürzte der Abgrund neben dem schmalen Pfad in die Tiefe und wenn die Pferde Steine lostraten, dauerte es lange, bis aus der dunklen Tiefe der Aufprall zu hören war.
"Hoffentlich hat diese Schwester nicht nochmals eine Schwester", murmelte einer der Männer und blickte vorsichtig in die Schlucht hinunter. am Abend sahen sie endlich ein kleines Haus. Es schmiegte sich an den Berg und die drei schüttelten verwundert die Köpfe: "Wie kann man nur hier ein Haus bauen? Ein Steinschlag genügt und das ganze Haus wird in die Tiefe gerissen." Auf einem kleinen in den Felsen geschlagenen Platz konnten sie ihre Pferde anbinden. Als die vorsichtig an die Holztür klopften, hörten sie eine Frauenstimme: "Wer immer es ist, er möge hereinkommen, wenn er Frieden in seinem Herzen trägt." Die Männer sahen sich betreten an. Dann legten sie ihre Schilde und Schwerter ab und öffneten die Tür. In der Mitte des Raumes saß eine alte Frau in einem bequemen Sessel und lächelte sie an.
"Seid mir willkommen, Fremde. Was führt euch zu mir?"
Die drei Männer berichteten der Frau, wie deren Schwestern zuvor.
"Ja", sagte die alte Frau, "ich glaube, ich kann Euch helfen, doch zuvor ruht euch aus. Morgen früh werden wir weitersehen."
Es geschah, wie die alte Frau es wünschte. Nach dem Essen bereiteten sich die Männer ihr Lager in einem Zimmer des Hauses. Obwohl unter ihnen die Schlucht in dunkle Tiefen stürzte, schliefen sie gut und erwachten am Morgen voller Mut. Die alte Frau wartete schon auf sie.
"Wenn ihr heute weiterzieht, folgt der Schlucht. Der Weg ist nicht leicht zu gehen. Achtet auf jeden Schritt, sonst stürzt ihr in die Tiefe. Danach werdet ihr wieder den großen Berg sehen. Dort wird der Drache von den Rittern der Angst gefangen gehalten. Ich werde euch dieses Kästchen mitgeben. Es wird euch helfen, den Drachen zu überwinden."
Die Männer bedankten sich. Das Kästchen wog schwer in ihren Händen. Dann traten sie vor die Hütte und suchten nach den Schwertern. Doch sie fanden nur noch ihre Schilde.
"Wo sind unsere Schwerter?" riefen die drei entsetzt, "ohne sie sind wir völlig hilflos!"
Die alte Frau trat zu ihnen: "Ich habe sie genommen, denn sonst hätte ich euch diese Kästchen nicht geben können. Glaubt mir, eure Schwerter hätten nichts genutzt gegen den Drachen. Wenn ihr ihm aber gegenübersteht und nicht mehr weiter wisst, dann öffnet dieses Kästchen."
Niedergeschlagen standen die drei Männer vor der Frau. Endlich hob einer den Kopf und sah sie an: "Wer seid Ihr, alte Frau? Und wer sind Eure Schwestern?" "Habt ihr sie nicht danach gefragt? Das wundert mich. Die Ritter der Angst müssen schon sehr mächtig geworden sein, wenn ihr nicht einmal mehr wagt, fremde Menschen nach dem Namen zu fragen." Die alte Frau schüttelte besorgt den Kopf. "So wisst also, meine jüngste Schwester ist die Fee der Hoffnung. Sie ist noch fast ein Kind. Aber ihre Kraft wächst von Tag zu Tag. Ihre ältere Schwester ist die Fee der Liebe. Manchmal ist sie sehr enttäuscht und sieht fast keinen Weg mehr. aber sie gibt nicht auf und sie hat recht, denn zu verlieren hat sie nichts. Sie kann nur siegen. Und ich, die ich meine beiden Schwestern behütet und umsorgt habe, während sie größer wurden, ich bin die Fee des Vertrauens. Manche meinen, meine Kraft sei schon erloschen, weil ich so alt bin, aber glaubt mir, meine Kraft wird niemals schwinden. Sie ist so beständig wie die Welt. Deshalb geht jetzt und lasst euch nicht beirren. Denkt an unsere Worte und euch wird nichts geschehen."
Die drei Männer gehorchten der alten Frau und alles war, wie sie es ihnen gesagt hatte. Der Weg durch die Schlucht war gefährlich. Manchmal wollten sie nicht weitergehen, aus Angst in die Tiefe zu stürzen. Aber in ihren Herzen trugen sie die Erinnerung an die drei Schwestern; das gab ihnen Kraft, Mut und Zuversicht. Sie überwanden die Schlucht und sahen nun den hohen Berg vor sich. Drei Tage ritten sie darauf zu. Als sie den Fuß des Berges erreicht hatten, konnten sie den Gipfel nicht mehr erkennen. Er schwebte irgendwo weit über ihnen in dunklen, bedrohlichen Wolken. Ratlos suchten die drei Männer nach einem Weg zwischen den großen Felsen und dem losen Geröll. Aber nirgendwo fanden sie einen Hinweis auf einen gangbaren Pfad. Verzweifelt sahen sie sich an: "Was sollen wir jetzt tun? Es gibt keinen Weg hinauf zum Gipfel. Wir werden uns verirren oder abstürzen!" meinte einer von ihnen mutlos. "Lasst uns das erste Kästchen öffnen", sagte darauf der zweite. die Männer öffneten das Kästchen, welches ihnen die Fee der Hoffnung mitgegeben hatte. Als sie den Deckel zurückklappten, schwebte daraus ein blaues Licht, das mit strahlendem Glanz leuchtete. Es schien ein wenig zu warten, dann entfernte es sich langsam. "Das Licht zeigt uns einen Weg. Schnell, wir wollen ihm folgen." Weil aber das dritte Kästchen so schwer war, mussten es zwei Männer tragen und der dritte brauchte beide Hände, um das andere Kästchen mit sich zu nehmen. So kam es, dass sie am Fuße des Berges auch noch ihre Schilde zurücklassen mussten. Ohne Waffen und ohne Schutz folgten die Männer dem blauen Licht den Berg hinauf. Bald wurden auch sie von den dunklen Wolken eingehüllt. Die Luft war dick und es roch nach Moder, Tod und Verwesung. Schließlich stand das Licht still. Als die Männer näher kamen, sahen sie, dass sie den Gipfel des Berges erreicht hatten. Das Licht schwebte höher und erleuchtete einen weiten Platz.
Und dort lag der Drache des Schreckens. Sein gewaltiger, schuppenbesetzter Kopf lag auf den Vorderpranken, die mit fürchterlichen Krallen bewehrt waren. Die mächtigen Schwingen hatte es zusammengefaltet, die Augen geschlossen. Er schlief. Vor dem Drachen, auf dem felsigen Platz, sahen die drei Männer Spuren wilder Kämpfe. Schwerter und Schilde, Rüstungen und Lanzen, Gerippe und Knochen lagen verstreut.
"Ich habe Angst", flüsterte einer der Männer - und das blaue Licht leuchtete ein wenig stärker.
"Ich auch", sagte der zweite, und wieder schien das Licht zu wachsen. "Mir geht es genauso". Die Stimme des dritten Mannes war völlig tonlos - und jetzt strahlte das blaue Licht heller als die Mittagssonne. Der Drache blinzelte und bewegte sich unruhig. Wahrscheinlich hatte diesen düsteren Ort sogar die Sonne gemieden. Die grauen, gelben und schwarzen Wolken, die den Gipfel umhüllten, waren auch zu dicht und dick. Jetzt hob der Drache den Kopf.
Die drei Männer wichen zurück.
"Er öffnet die Augen" stieß einer atemlos zwischen blutleeren Lippen hervor. Der Drache blickte sie an, sah ihnen direkt in die Augen. Sein Blick war traurig und voller Sehnsucht. Er schüttelte das mächtige Haupt, als wolle er den Schlaf vertreiben oder eine böse Erinnerung. Er erhob sich und die drei Männer sahen, dass er auf einer unzähligen Menge von Schlüsseln gelegen hatte.
"Die Stadtschlüssel" murmelte einer der Männer. "Hier sind die Stadtschlüssel versteckt. Wir müssen sie zurückbringen!"
Und dann entdeckten die drei Männer die Ketten, welche den Drachen hier auf dem Berggipfel festhielten. Dicke, starke Eisenketten, mit schweren Schlössern versehen, lagen ihm um Hals und Beine. Der Drache konnte sich zwar bewegen, fliegen jedoch konnte er nicht. Er begann seine mächtigen Schwingen zu entfalten. Hilflos schlug er damit durch die Luft. Es rauschte wie bei einem Herbststurm im dichten Wald. Fauchend und drohend öffnete er sein Maul und bewegte sich ein wenig auf die drei Männer zu. Sie konnten den heißen Atem auf ihrem Gesicht spüren und wichen soweit zurück, wie es nur ging.
"Schnell" rief einer der Männer, "wir öffnen das zweite Kästchen". Hastig entnahmen sie dem zweiten Kästchen die Blätter, die ihnen die Fee der Liebe mitgegeben hatte und aßen sie. Zunächst schien sich nichts verändert zu haben. Unbezwingbar und gewaltig stand der Drache auf dem Platz. Die Ketten an seinen Beinen warmem zum Zerreißen gespannt und zitterten. Als die Männer schon glaubten, die Fee der Liebe hätte sie beschwindelt und ihre Macht sei eben doch zu schwach, hörten sie plötzlich eine sanfte Stimme: "Fremde hört mich an. Bitte hört doch. Ich will euch nichts tun. Hört ihr mich denn nicht?" Verwundert blickten sich die drei Männer um. Es war niemand da, die seltsame Stimme klang auch nicht in ihren Ohren. Sie schien direkt in ihrem Herzen zu sprechen.
"Hier!" sprach die sanfte Stimme weiter, "ich bin es, der zu euch spricht. Könnt ihr mich wirklich hören? Könnt ihr mich verstehen?" "Es ist der Drache!" Die Männer überlief ein Schauer, so als ob sie einen bösen Traum verscheuchen wollten, schüttelten sie sich. "Der Drache des Schreckens spricht zu uns".
"Ich bin kein Drache des Schreckens." Wieder hörten sie die Stimme in ihren Herzen und jetzt sahen sie auch, wie sich die lange, gegabelte Zunge des Drachen bewegte. "Ich bin ein Drache der Lüfte, ein Drache der Freude und des Spiels. Die Ritter der Angst nahmen mich gefangen und ketteten mich hier fest. Sie fürchten sich vor mir, denn wenn ich frei bin, wenn mich keine Ketten behindern, verlieren sie ihre Macht. Ich kann sie aus dem Land vertreiben. Da sie selbst nicht stark genug sind, mich zu vernichten, bringen sie jedes Jahr eine Unzahl junger Männer, die mit mir kämpfen müssen. Ihr seid die ersten, die nicht von den Rittern der Angst hierher gebracht wurden. Ihr seid die ersten, die ohne Waffen kommen. Und ihr seid die ersten, die mich verstehen können, zu denen ich sprechen kann. Bitte bindet mich los und lasst mich wieder fliegen. Ein Drache der Freude verkümmert, wenn er angekettet ist." Unsicher standen die drei Männer dem Drachen gegenüber. Die Blätter der Fee der Liebe hatten zwar ihre Herzen geöffnet, aber sie zögerten noch und wussten nicht, ob sie den Worten des Drachens glauben konnten.
Schließlich erinnerten sie sich an das dritte Kästchen. Als sie es öffneten, sahen sie darin ihre drei Schwerter. Aber die scharfen Klingen waren umgeschmiedet. Aus jedem Schwert hatte die Fee des Vertrauens einen Schlüssel geformt. Da verstanden die drei Männer: Sie nahmen die Schlüssel, die früher einmal ihre Schwerter gewesen waren, und traten zu dem Drachen. Dieser zerrte vor Aufregung und Freude an den dicken Ketten, als jeder der Männer eines der großen Schlösser öffnete.
Dan entfaltete er seine gewaltigen Schwingen und liess sie einige Male, so als müsse er erst wieder ihre Kraft prüfen, die Luft zerteilen. Mit den gelenkigen Vorderpranken nahm er vorsichtig alle Stadtschlüssel an sich: "Ich werde sie zurückbringen" hörten die Männer wieder die Stimme in ihren Herzen. "Habt Dank für eure Liebe und euer Vertrauen. Niemals wieder werden die Ritter der Angst dieses Land heimsuchen."
Dann schwang er sich mit einem mächtigen Flügelschlag vom Gipfel des Berges empor und mit jedem Schwung seiner Flügel wischte er die dichten Wolken ein wenig mehr zur Seite.
Das blaue Licht der Hoffnung erlosch langsam und an seiner Stelle brach die Sonne eines neuen Tages durch den letzten Rest der düsteren Wolkenschleier.

Graphics © Penny Parker

 

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